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Die Expedition beginnt

Diese Geschichte entstand während der Vorarbeiten zu »Wege eines Narren – Meridies«. Nachdem ich den ersten Entwurf geschrieben hatte, haben mir einige Testleser*innen zurecht vorgeworfen, die Charaktere wären zu flach. Vor allem die Mitglieder der Sternfahrer-Expedition waren nicht wirklich ausgearbeitet gewesen. Also setzte ich mich noch einmal daran, eine Vorgeschichte zu jeder einzelnen Person zu entwickeln. Außerdem habe ich mich gefragt, wie die Charaktere wohl aufeinander getroffen sind. Das Ergebnis kannst du hier nachlesen.

Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass Aia in dieser Geschichte noch nicht auftaucht. Irgendwo musste ich auch aufhören, da dieses Nebenprodukt ansonsten ein eigenes Buch geworden wäre. Du kannst ja mal gerne kommentieren, was du von dieser Idee hältst, bzw. von welchem Charakter du dir mehr Hintergrund-Infos wünschen würdest.

Aramis schlenderte gut gelaunt über den Markt. An diesem Abend würde er Liana treffen. Er hatte sie schon länger im Blick gehabt, doch bisher noch nicht die Zeit gefunden, sich näher mit ihr zu befassen. Heute Abend also sollte es so weit sein. Aramis lächelte, als er an Lianas festen Körper dachte. Sie war ganz nach seinem Geschmack.
Während er nach einem passenden Geschenk für sie Ausschau hielt, fiel ihm eine Händlerin aus Bangaru auf. Die Menschen aus dieser Stadt nördlich der Großen Wüste waren allesamt stattlich anzusehen. Ihre Haut glänzte wie polierter Turmalin. Darüber trug sie eine weiße Robe mit filigranen Goldstickereien an Saum und Kragen. Hier würde Aramis fündig werden. Bangaru war bekannt für seine Goldschmiedekunst.
»Seid mir gegrüßt, edle Dame«, sagte Aramis und warf der Händlerin sein charmantestes Lächeln zu.
»Willkommen, der Herr. Sucht Ihr etwas für eure Liebste?«
»Sozusagen.«
Die Händlerin lächelte. »Was darf es denn sein? Ich habe hier Ringe. Seht Euch mal die feine Verarbeitung an.«
»Ja, wirklich bemerkenswerte Handwerkskunst. Doch nein, kein Ring.«
»Ihr lernt sie erst kennen, ich verstehe. Wie wäre es dann mit einem Armreif oder einer Kette?«
»Ja, eine Kette wäre schon recht. Diese hier mit der schwarzen Rose… was soll sie kosten?«
»Ein wirklich schönes Stück. Achtzig Bes.«
»Bei aller Liebe, eine stolzer Preis. Gleich um die Ecke habe ich eine ähnlich schöne Kette für fünfzig gesehen.«
»Ich bezweifle, dass Ihr hier edlere Ketten bekommen werdet als die aus Bangaru. Doch weil ich Eurem jungen Liebesglück nicht im Wege stehen will, gebe ich Euch einen Rabatt. Fünfundsiebzig Bes.«
»Sechzig.«
»Siebzig.«
»Fünfundsechzig?«
»Abgemacht. Möge die Kette Euch Glück bringen.«
Die Händlerin legte die Kette in ein kleines Beutelchen und reichte es Aramis.
»Ich danke Euch. Das Glück habe ich bereits auf meiner Seite.« Er grinste keck. Dann fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der neben all dem Gold eher unscheinbar aussah. Es war ein Klotz, vielleicht ein Stück Holz, das über und über mit Sternen verziert war. Doch es schien kein reines Kunstwerk zu sein. Die Sterne schienen eine besondere Anordnung zu haben, fast so wie die Schrift in einem Buch. Aramis leckte sich über die Lippen.
»Was ist das dort?«, fragte er möglichst beiläufig. »Sieht aus wie das Gesellenstück eines unbegabten Lehrlings.«
»Ihr irrt. Es ist kein Kunsthandwerk«, sagte die Händlerin. »Jemand brachte es aus der Großen Wüste mit. Ein Abenteurer, der es einige Meilen weit hinein gewagt hatte, bevor ihm der Mut ausgegangen war. Ihr habt ja sicher gehört, was man über die Wüste erzählt.«
»Es gibt wohl keinen gefährlicheren Ort auf der Welt.«
»Und keinen, der weniger erforscht ist. Seit den Magischen Kriegen versuchen wir, eine Handelsroute nach Bohola zu finden. Es ist, als versperre uns die Wüste mit Absicht den Weg.«
»Was hat es jetzt mit diesem Gegenstand auf sich?«
»Das haben sich die Gelehrten in Bangaru auch schon gefragt. Sie haben aber nichts herausgefunden. Schließlich kam er zu mir und ich nahm ihn mit. Immerhin sieht er hübsch aus. Vielleicht möchte ihn sich jemand zuhause ausstellen.«
»Danke für diese Geschichte.« Aramis tat, als würde er sich aufmachen wollen. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Mein Bruder hat eine Schwäche für so einen alten Tand. Was würdet ihr denn dafür haben wollen?«
»Fünfzehn Bes.«
»Ich gebe Euch fünf.«
»Zwölf.«
»Zehn. Fünf für den Gegenstand und fünf für Eure Geschichte.«
»Abgemacht. Er soll Euch gehören.«
»Ich danke Euch. Es war mir eine Ehre, mit Euch Geschäfte zu machen. Möge Euch Thoth hold sein.«
»Und Euch weiterhin viel Glück auf Euren Wegen.«
Aramis dachte jetzt nicht mehr an Liana. Er freute sich auf das Gesicht seines Bruders Athos. Wenn die Händlerin die Wahrheit gesagt hatte, war dieser Gegenstand mehr wert als hundert goldene Ketten. Aramis eilte durch die Straßen und Gassen von Moribus zum Haus seiner Eltern.

»Es ist eine interessante These, Ulix«, sagte Athos und fuhr sich durch den Bart, während er in dem Buch blätterte. Ein Buch der Alten, nun entschlüsselt und übersetzt von seinem Schüler. Dieser Junge hatte ihn längst übertroffen.
»Ich glaube, es könnte der Schlüssel sein, um die Traumzeit zu verstehen«, sagte Ulix.
»Wieso denkst du, dass es nicht nur eine Geschichte ist?«, fragte Athos.
Ulix richtete sich auf, wie immer, wenn er referierte. Diese Haltung verlieh ihm eine steife Würde. Er würde mal ein guter Lehrer werden, sicher ein besserer als Athos es je gewesen war – und Athos galt als einer der besten in Moribus.
»Vyakti hat bereits geschrieben, dass durch Machtgier eine große Katastrophe über die Menschheit kam«, sagte Ulix. »In diesem Buch finden wir es ebenfalls wieder: Ein Herrscher, der alles daransetzt, die Welt nach seinen Wünschen zu unterwerfen. Ein gewaltiger Krieg, der über Wohl und Verderben entscheidet.«
»Ulix, deinen genialen Verstand in Ehren. Doch von solchen Geschichten erzählen auch die Autoren unserer Zeit.«
»Nicht in dieser Tiefe. Schaut, Meister, wie in diesem Kapitel…«
Aramis kam herein, warf seine Tasche auf den Tisch und setzte sich breit grinsend dazu. Ulix blickte ihn missbiligend an. Für ihn hatte der jüngste Bruder seines Meisters kein Benehmen. Athos schien verärgert, aber dennoch neugierig, denn Aramis kam ihn nie grundlos besuchen.
»Habe ich eure kleine Unterhaltung gestört? In dem Fall verzeiht mir bitte und fahrt fort«, sagte Aramis und lehnte sich genüsslich zurück. Gerade, als Ulix weitersprechen wollte, beugte sich Aramis plötzlich vor. »Ah, vorausgesetzt natürlich, dass euch das hier nicht interessiert.« Er öffnete seine Tasche und zog den Gegenstand heraus.
»Warum sollte uns das interessieren?«, fragte Ulix. Seine Abneigung gegenüber Aramis war deutlich zu hören.
Athos nahm den Gegenstand in die Hand. »Es scheint mir wie Holz«, sagte er. »Und was sollen diese Zeichen bedeuten?«
»Ich dachte, das könnten mir die zwei besten Gelehrten in Moribus sagen.« Aramis grinste. Dann erhob er sich und machte eine ausladende Geste wie ein Schausteller auf dem Marktplatz. »Dieses Artefakt hier stammt aus der Großen Wüste von Palý Desaya. Ich würde schätzen, es ist so alt wie die Ersten Menschen.«
»Älter«, sagte Ulix und betrachtete den Gegenstand nun genau. »In den ersten Aufzeichnungen über Palý Desaya wird die Wüste bereits erwähnt. Doch das hier stammt eindeutig von einem Baum, der Rinde nach zu urteilen von einem sehr großen Baum. Und diese Zeichen… sie sehen aus wie Sterne, aber die Anordnung ist regelmäßig, als würden sie etwas bedeuten. Wo habt Ihr das her? Das ist ein Vermögen wert!«
»Dachte ich es mir«, sagte Aramis und verschränkte die Arme. »Deshalb habe ich es zu euch gebracht. Ihr braucht mir nicht zu danken. Aber Bruder, du schuldest mir zehn Bes.« Aramis nahm seine Tasche und ging zur Tür. »Du kannst sie mir später geben. Für gleich bin ich verabredet.«
Athos lächelte. Aramis mochte seinen eigenen Kopf haben. Doch er war klug und hatte eine gute Intuition.

Jason klopfte an. Er hatte schon länger nichts von seinem Freund gehört und machte sich langsam Sorgen. Athos öffnete. Er lächelte Jason an.
»Ulix ist gerade beschäftigt«, sagte Athos.
»Wieder ein Buch?«, fragte Jason.
»Wenn es nur das wäre…« Athos ließ Jason herein und bot ihm einen Tee an. Jason lehnte dankend ab. Seine Augen suchten in dem Halbdunkel zwischen den vielen Regalen, bis sie Ulix fanden. Dieser saß gebeugt über der Borke mit den Sternenrunen, umgeben von zahlreichen Büchern und Schriftrollen. Die Augen waren eingefallen und ein dunkler Schatten lag darunter. Ulix‘ Haut war blass wie der Mond. Er raufte sich die Haare wie immer, wenn er über ein Problem nachdachte, das scheinbar unlösbar war.
»Darf ich stören?«, fragte Jason höflich. Ulix merkte auf, als hörte er ein Geräusch in weiter Ferne, das erst allmählich in sein Bewusstsein drang. Langsam hob er den Kopf, blinzelte und brauchte einen Moment, bis er seinen Freund erkannte. Er rieb sich die Augen und gähnte. Wie lange hatte er schon so dort gesessen? Stunden, Tage?
»Jason, welche Freude«, gähnte Ulix heraus. »Nein, wirklich. Entschuldige, mein Freund, dass du mich in dieser Verfassung vorfindest.«
»Hast dir wieder ’ne harte Nuss vorgenommen, was?«
»Das kann man so sagen. Eine unbekannte Schrift in einer unbekannten Sprache, die mit keiner zu vergleichen ist, die ich kenne. Das ist durchaus als harte Nuss zu bezeichnen.«
»Jetzt weiß ich, wo du die letzte Woche abgeblieben bist.«
»Schon eine Woche? Mir kommt es vor als – ach, Jason, die Zeit fliegt. Und ich komme kein Stück voran. Vielleicht ist dies der Schlüssel zur Traumzeit. Und ich verstehe ihn nicht.«
»Hast du es schon mit ‚Freund‘ versucht?«
Ulix lachte. »Dies ist kein magisches Portal, zumindest glaube ich das.«
»Hast du die Magier dazu befragt?«
»Nein, ich wollte es selbst lösen.« Er grinste. »Ich weiß, was du jetzt denkst.«
»Du weißt, wieviel ich von dir halte. Würde mich nicht mal ’ne halbe Stunde mit sowas abgeben. Und glaub‘ mir, wenns einer lösen kann, dann bist du das. Also mach gerne weiter. Aber vergiss nicht, ab und zu mal raus an die frische Luft zu gehen. Oder was zu essen.«
»Ich kann diese Runen nicht allein lassen. Ich stehe kurz davor –«
»Mit leerem Magen kann dein Kopf nicht denken. Also komm mit mir runter zum Hafen. Da kannst du deinen vollen Kopf mal freipusten. Ich lad dich ein. Gestern haben wir den Damm fertiggestellt. Das wollte ich mit dir feiern.«
»Gestern war das schon? Oh, mein Freund Jason, das müssen wir auf jeden Fall feiern. Aber die Runen –«
»Die werden auch noch da sein, wenn du zurückkehrst. Also, kommst du mit? Oder muss ich deinen Lehrer noch um Erlaubnis bitten?«
Athos hatte bisher nur schmunzelnd zugesehen. Nun sagte er: »Es wird Zeit, dass du mal wieder frische Luft schnappst, Ulix. Ich passe auf, dass niemand deinen Arbeitsplatz anrührt.«
»Nun gut, wie es aussieht, habe ich keine Wahl.« Ulix grinste. »Dann komm, alter Freund, wollen wir uns mal ansehen, wie der Damm aussieht.«

Ulix ließ seine Hammelkeule sinken. »Jetzt habe ich die Lösung!«, rief er aus und wollte aufstehen.
»Sachte, mein Freund.« Jason hielt ihn am Ärmel zurück. »Lass uns erst einmal zu Ende essen. Soviel Zeit muss sein. Aber erzähls mir gerne.«
»Der Grund, warum ich die Runen nicht entschlüsselt bekomme, liegt doch auf der Hand: Es ist nur ein Fragment, nur ein Ausschnitt. Es enthält zu wenig Information, als dass ich daraus eine ganze unbekannte Sprache herausarbeiten könnte.«
»Moment, lass mich kurz nachdenken, damit ich dir folgen kann. Also heißt das, dass du mehr von diesen Runen brauchst?«
»So ist es.«
»Aramis meinte doch’s gäb nur dieses eine Ding?«
»Ja, aber die Händlerin berichtete, dass es aus der Großen Wüste stammte.«
»Du willst doch nicht… Ulix, das ist verrückt.«
»Jason, wir müssen dorthin. Wir müssen noch mehr von diesen Runen finden.«
»Wen meinst du mit ‚wir‘? Hab hier genug zu tun.«
»Du sagtest selbst, dass der Damm fertig ist. Und hattest du dir nicht auch gewünscht, mal ein wenig zu reisen?«
»Ja, zu den Drachenkämpfen nach Ke Lebara oder nach Yong’in, um die Rennen zu sehen. In die Große Wüste – das ist ’ne andere Sache. Das bräuchte Vorbereitung. Und wir bräuchten gute Leute. Das ist nichts, was man mal eben macht.«
»Aber es wäre machbar, oder?«
Jason grinste sein breites Grinsen, lehnte sich zurück und nahm eine Hammelkeule in die Hand. »Du willst das wirklich machen? Du willst in die Große Wüste, um da Runen auszugraben?«
»So lange träume ich schon davon, endlich das Geheimnis über die Traumzeit zu lüften. Zu wissen, was geschehen ist, bevor die Ersten Menschen in diese Welt kamen. Woher sie kamen. Das ist mein größter Wunsch.«
Jason biss genüsslich ab. »Dann lass es uns angehen.«

»Komm, weiter«, sagte Diana und zog Dulcinea am Ärmel. »Wir können uns das hier nicht leisten. Und wir brauchen eine Unterkunft.«
»Mein Leben lang bin ich nicht so herumkommandiert worden. Nicht einmal von meinen Eltern«, beschwerte sich Dulcinea.
»Willst du überleben? Dann halte dich an mich.« Diana blickte Dulcinea eindringlich an. »Ich möchte dich nicht noch einmal aus einer misslichen Lage befreien müssen.«
»Das lag nicht an mir. Es war –«
»Du bist einfach aufs offene Meer gefahren, ohne jemals ein Segel gesetzt zu haben. Du kannst froh sein, dass du es überhaupt so weit geschafft hast.«
»Vielleicht bin ich ein Naturtalent.« Dulcinea lächelte. Diana verdrehte die Augen.
»Komm jetzt!«
Dulcinea folgte widerwillig. Auf Toboso war sie eine Prinzessin gewesen. Alle hatten zu ihr aufgesehen. Sie fragte sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Hier war alles so laut, so dreckig und so anstrengend. Aber sie ließ sich nichts anmerken und schritt Diana hinterher. Hier und da spürte sie Blicke auf sich ruhen. Sie streckte ihre Brust etwas mehr heraus. Vielleicht, nein, ganz sicher würde sie hier ihrem Ritter begegnen.

»Eine Expedition?«, fragte Athos. »Vielleicht sind diese Runen doch nicht so wichtig, wie du glaubst.«
»Und was, wenn doch?« Ulix ging in der Bibliothek auf und ab. »Ihr selbst sucht schon seit Jahrzehnten nach Hinweisen auf die Traumzeit. Vyakti war der erste, der etwas dazu aufschrieb. Doch die Erweckung war da bereits einige Generationen her. Hier haben wir die Gelegenheit, ein Zeugnis aus der Zeit VOR der Erweckung zu bekommen.«
»Du hast bereits dieses Buch.«
»Das ist doch nur eine Fantasie-Geschichte. Sagtet ihr das nicht?«
»Bist du dir da auf einmal so sicher?«
»Ich bin mir sicher, dass diese Runen etwas völlig Neues sind, geschrieben auf Holz, das früher in der Wüste gewachsen sein muss, lange vor der Erweckung. Vielleicht finden wir Hinweise, was zur Erweckung geführt haben mochte und wie die Welt vorher ausgesehen hat.«
»Das sind mir zuviele Unwägbarkeiten. Die Wüste ist ein gefährlicher Ort, noch gefährlicher seit den Magischen Kriegen. Niemand ist dort hindurchgekommen seit dreihundert Jahren. Niemand, der davon berichten könnte.«
»Wir könnten die ersten sein. Überlegt doch einmal, wie die Welt auf uns und Moribus schauen würde! Wir könnten das Geheimnis dieser Wüste ergründen, könnten eine Karte anfertigen – und natürlich Schätze bergen, die unsere Wissenschaft um einiges voranbringen würde. Viel Wissen ist unter dem Sand verborgen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Es ist offensichtlich. Diese Sternrunen sind nur der Anfang. Dieses Artefakt ist kein Einzelstück. Früher hatte es sicher viel mehr davon gegeben, so wie wir heute Bücher schreiben. Selbst wenn der Großteil durch die Erweckung vernichtet sein sollte, müssten wir noch einige Exemplare finden.«
»Das könnte uns tatsächlich Ruhm einbringen. Doch ich bin kein Abenteurer, Ulix. Ich habe den Großteil meiner Jahre hier hinter diesen Mauern verbracht, zwischen den Schriften der alten Meister. Nur einmal habe ich eine Reise unternommen, um die Große Bibliothek von Raqedu zu bestaunen. Ich bin nicht dafür gemacht, Hunger und Durst zu leiden und eine gefahrvolle Wanderung auf mich zu nehmen.«
»Ihr müsst nicht mitkommen, wenn es Euch Angst macht. Ich werde gehen, ob mit oder ohne Euch.«
Athos seufzte. Gerade wollte er etwas erwidern, da kam ein Mann in die Bibliothek. Er hatte breite Schultern, einen lustigen Ziegenbart und ein fröhliches Lächeln auf dem wettergegerbten Gesicht.
»Bruder, man muss dich ja regelrecht suchen!«, rief er beim Eintreten.
»Porthos!« Athos lächelte. »Du bist zurück?«
»Und fast in einem Stück«, lachte Porthos und präsentierte seinen linken kleinen Finger, von dem die Kuppe fehlte. »Hat sich ein Jaguar gekrallt. Ich konnte die Hand noch rechtzeitig zurückziehen, bevor der ganze Arm im Schlund dieser Bestie gelandet wäre. Meiner Treu, das war knapp! Dieser Verlust wird mich auf ewig daran erinnern, die Fallen um mein Lager mit mehr Sorgfalt aufzustellen. Doch als Entschädigung dient mir das Fell dieser Kreatur bald als Wintermantel. Habe bereits den besten Schneider der Stadt damit beauftragt. Mit einem solchen Mantel kann ich auch die Norviks besuchen.«
»Ich dachte, du bleibst ein wenig?« Athos verschränkte die Arme. »Bruder, hast du das ständige Reisen nicht langsam satt?«
»Ach was!«, lachte Porthos. »Du kannst nicht genug von dem hier kriegen.« Er deutete auf die ganzen Bücher im Raum. »Ich entdecke die richtige Welt. So hat jeder seins, was er nicht lassen kann.«
»Nun, vielleicht können wir Eure Hilfe gebrauchen«, warf Ulix ein. Athos blickte zwischen Porthos und Ulix hin und her.
»Inwiefern? Wollt ihr ein Buch über den Urwald des Pantanal schreiben? Junge, ich kann dir da Geschichten erzählen. Oder willst wissen, wie die Mashú ihre Drachen zureiten?«
»Dieser junge Mann redet von einer Expedition«, sagte Athos mit deutlich hörbarer Abneigung.
»Eine Expedition, hm?« Porthos zwirbelte seinen Bart. »Wohin soll es denn gehen?«
»Wie wäre es mit der Großen Wüste?«, fragte Ulix.
»Die Große Wüste, meiner Treu!« Porthos machte große Augen. »In Bangaru war ich schon und auch in Raqedu. Südlich davon beginnen die Schattenlande, wo die größten Abenteurer einen riesen Bogen herum machen. Aber erst die Wüste? Das ist totes Land, noch toter als tot. Da ist es staubtrocken und das ist nicht einmal das Schlimmste. Es gibt Kreaturen dort, wisst ihr, magische Kreaturen. Man müsste schon ein Teufelskerl sein, um da einen Fuß hineinzusetzen.«
»Und seid Ihr nicht ein Teufelskerl?«, fragte Ulix und sah Porthos geradewegs in die Augen.
»Der größte weit und breit!« Porthos schlug sich stolz gegen die Brust.
Ulix grinste listig. »Worüber würden die Leute wohl eher reden: Über den hundertsten Mann, der zu den Norviks reist – oder über den Mann, der die Große Wüste bezwang?«
Porthos knuffte Ulix in die Seite. »Du gefällst mir, Ulix. Du weißt, wie du die Leute auf deine Seite bekommst. Tatsächlich habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, einmal die Wüste zu bereisen. Doch es würde gute Leute erfordern. Um nicht zu sagen: Die besten, die wir bekommen können. Wir bräuchten Ausrüstung und genug Verpflegung. Denn wir könnten uns nicht darauf verlassen, in der Wüste etwas zu finden.«
»Das klingt, als würdest du diese Expedition bereits planen«, stöhnte Athos.
»Ja, das klingt so«, meinte Ulix grinsend. »Und, seid Ihr mit dabei?«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Athos.

Diana und Dulcinea schleppten sich müde durch die Straßen von Moribus. Es war gar nicht so einfach, eine Unterkunft zu bekommen. Alle Zimmer und sogar die Schlafsäle waren belegt. Ihre Füße taten weh, sie hatten Hunger und allmählich zogen die Schatten herauf.
»Müssen wir etwa auf der Straße schlafen?«, fragte Dulcinea und blickte sich angewidert um, als eine fette Ratte an ihnen vorbeihuschte.
»Wolltest du nicht Abenteuer erleben?«, fragte Diana zurück. Sie grinste, allerdings nicht sehr überzeugend.
»Durchaus. Aber ich dachte, dass ich nach einem solchen Abenteuer in einem weichen Bett schlafen würde. Oder zumindest gebettet auf einen Moosteppich neben einem warmen Feuer, den Mond und die Sterne über mir…« Ihre Augen leuchteten.
»Ich glaube, du weißt gar nicht, was ein Abenteuer ist.«
»Ich weiß es sehr wohl«, gab Dulcinea schnippisch zurück. »Ich habe sehr viel darüber gelesen.«
Diana seufzte. Dann blieb sie plötzlich stehen.
»Ein Abenteuer ist herrlich«, schwärme Dulcinea. »Zuerst schaut man der Gefahr ins Auge…«
»Still!«, zischte Diana und zog Dulcinea am Ärmel.
»…und abends liegt man in den Armen eines stattlichen…«
»Da kommt jemand!«
Die Straße war beinahe menschenleer. Nur aus einigen Wirtshäusern drang noch Licht und Lärm. Doch am Ende der Straße tauchte ein Schatten auf, groß und breit. Mit schweren Schritten kam jemand auf sie zu.
»Vielleicht kann er uns eine Unterkunft gewähren?«, fragte Dulcinea.
»Ja, oder er ertränkt uns im Hafenbecken. Wir gehen lieber in die andere Richtung.«
»Was du wieder hast.«
Trotzdem folgte sie Diana. Sie bogen gerade in eine Gasse ein. Da stand eine Gruppe Männer vor ihnen. Rasch ließen sie etwas in ihren Mänteln verschwinden. Vielleicht waren es Hehler. Diana wollte Dulcinea weiter ziehen, doch die Männer kamen auf sie zu.
»He, bleibt ruhig noch ein wenig«, sagte einer von ihnen, dem eine Narbe über das ganze Gesicht lief. Er grinste.
»Zwei so hübsche Damen allein in der Stadt«, sagte ein anderer. In seiner Hand blitzte ein Messer auf. »Hier ist es gefährlich, müsst ihr wissen, gerade nachts.«
»Wir wollten auch gerade nach Hause gehen«, sagte Diana und wollte weiter. Die Männer stellten sich ihnen in den Weg. Es waren fünf. Diana überlegte. Ein Kampf war aussichtslos. Würden sie es schnell machen, wenn sie sich nicht wehrten? Würde jemand auf sie aufmerksam werden und ihnen helfen?
»Ich bin Prinzessin Dulcinea von Toboso!«, rief Dulcinea plötzlich ehrerbietend. »Meine Eltern werden es nicht dulden, dass ihr mir ein Leid antut. Ich befehle euch…«
»Prinzessin, hä?« Der mit der Narbe lachte und die anderen fielen mit ein. »Das ist ja ein glücklicher Zufall. Eure Eltern, werden sicher einen guten Preis zahlen, um euch in einem Stück zurück zu bekommen, Hoheit.« Das letzte Wort unterstrich er mit einer gespielten Verbeugung. Die Männer kamen näher.
»Vielleicht überzeugt es sie auch, wenn wir erstmal ein Ohr zu ihnen schicken«, meinte der mit dem Messer und trat näher. Plötzlich packten je zwei Männer eine der Frauen. Diana und Dulcinea versuchten, sich freizustrampeln. Doch es war, als steckten sie in einem Schraubstock. Das Gelächter der Männer ließ ihnen einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Einer schnupperte an Dianas Haaren und ihr wurde übel von seinem Gestank.
»Lasst sie los!«, donnerte eine Stimme durch die Gasse. Sofort sprengten die Männer auseinander. Ein gewaltiger Schatten zeichnete sich gegen das Mondlicht ab. Der Kerl mit dem Messer wollte auf die Gestalt losgehen. Nur einen Augenblick später lag er mit verdrehtem Arm auf dem Boden und das Messer zu seinen Füßen.
»Weg mit euch, ihr Verbrecherpack, bevor ich euch auseinander nehme!« Der Schatten kam näher. Die Männer rannten so schnell sie konnten.
Ein paar Momente vergingen, während der Hüne in die Nacht starrte. Dann wandte er sich an die beiden Frauen.
»Alles in Ordnung mit euch? Haben sie euch was angetan?«
»Nein, alles gut«, sagte Diana. »Bei dir, Dulcinea?«
»Meine Würde haben sie verletzt. Ansonsten fehlt mir nichts.«
»Gut«, sagte der Hüne. »Ich heiße Jason. Ihr könnt heute Nacht in meinem Haus schlafen, wenn ihr wollt. Dort seid ihr sicher.«
Diana sah Dulcinea an, die glänzende Augen bekam.
»Habt Dank, edler Retter«, sagte die Prinzessin und machte einen Knicks. Diana rollte mit den Augen.
»Nich‘ dafür«, sagte Jason und kratzte sich am Kopf. »Edler Retter, hm?« Er lachte. »Wenn ihr wüsstet. Aber kommt erstmal mit. Also nur, wenn ihr wollt.«
»Wir sollten…«, sagte Diana.
»Wir danken Euch für Euer Angebot«, fiel ihr Dulcinea ins Wort. »Und auch wenn es uns beschämt, da wir bereits tief in Eurer Schuld stehen, freuen wir uns, wenn Ihr uns heute Nacht Unterkunft gewährt.«
Diana zuckte mit den Schultern. Vermutlich hatten sie keine andere Wahl. Dulcinea hielt Jason den Arm hin. Entweder verstand er diese Geste nicht oder er ignorierte sie. Jedenfalls ließ er sie beide neben sich herlaufen. Zu dritt gingen sie Richtung Hafenviertel.

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