Weißt du, was ein Herrgotts-Schnitzer ist? Ich wusste das nicht, bis mein damaliger Klassenlehrer Herr Thiemann mir die folgende Geschichte erzählte. Es ist eine Geschichte darüber, wie Perfektionimus uns manchmal im Weg steht.
Der Herrgotts-Schnitzer
In einer Hütte auf einem Berg lebte einst ein alter Herrgotts-Schnitzer. Er machte die kleinen Jesus-Figuren, die in Schulen, Klöstern und in Küchen an Kreuzen hingen. Und er war ein Meister seines Faches.
Weit und breit kannte man die Arbeiten dieses Herrgotts-Schnitzers. Der Ausdruck im Gesicht seiner Figuren war so lebendig, so kraftvoll, dass es einem die Tränen in die Augen trieb. So sehr konnte man das Leiden Christi nachempfinden.
Das Meisterstück
Eines Tages erwachte der Herrgotts-Schnitzer mit einer Eingebung. Vielleicht hatte im Traum Gott zu ihm gesprochen. Vielleicht waren es seine eigenen Gedanken. Jedenfalls wusste der Herrgotts-Schnitzer: Heute werde ich mein größtes Werk beginnen.
Dieser Jesus würde alle anderen Figuren in den Schatten stellen. Ja, der Herrgotts-Schnitzer begann sogar zu glauben, dass ihm Gott eine Vision der wahren Ereignisse geschickt habe, um sein Werk zu vollbringen und den Glauben im Herzen der Menschen zu stärken.
Die feinen Details
Zunächst machte der Herrgotts-Schnitzer eine grobe Form aus Olivenholz. Allein in der Haltung der Arme und Beine lag schon eine solche Würde und zugleich ein so großer Schmerz, dass man beim Anblick eine Gänsehaut bekam. Als sich der Meister an das Gesicht machte, war es, als erwachte der Jesus tatsächlich zum Leben.
Es vergingen Tage, wo der Meister sich sein Werk nur prüfend ansah, ohne einen Schnitt zu machen. Dann ritzte er mit einer winzigen Kerbe noch weiteres Leid in das Gesicht des kleinen Jesus. Feine Tränen rannen seine Wangen herunter und lösten zugleich das Gefühl im Betrachter aus, der Heiland habe mit seinem Opfer tatsächlich alle Sünden weggewaschen.
Der letzte Schliff
Doch der Meister war noch nicht zufrieden. Tag um Tag fragte er sich, wie er den Jesus noch besser machen konnte. Er nahm sein feinstes Werkzeug, schnitzte die winzigsten Details ins Holz – bis er eines Tages den letzten Schnitt machte.
Da erschrak der Meister. Er besah sich die Jesus-Figur in seiner Hand und sagte:
»Scheiße. Jetzt grinst er.«
Fazit
Was können wir vom Herrgotts-Schnitzer lernen? Oft reicht es, wenn wir nicht hundertzehn Prozent geben, sondern achtzig. Es ist gut und wichtig, solange an einem Projekt dranzubleiben, dass es gut ist. Aber wenn wir nicht aufpassen, verschlimmbessern wir es.
Von daher: Geh raus, zeig deine Kunst, zeig dich auf der Bühne und feiere dich – auch wenn das Ergebnis unperfekt ist. Halte dich nicht mit der Idee auf, du könntest es komplett richtig machen. Denn wir sind keine Heiligen. Wir sind Menschen.