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Ananyas Geburtstag

ACHTUNG! Diese Geschichte enthält Spoiler zum Roman »Wege eines Narren«.

Sahri ging noch einmal den Plan durch. Er hatte einen Krug Wein für Ananya besorgt – den aus Adalar, den sie so gerne trank. Für sich selbst hatte er Wasser bereit stehen. Er trank nie Alkohol. Sie trafen sich auf dem Tempelplatz, jedoch nicht im Getümmel zwischen all den nach Zwiebeln stinkenden Hafenarbeitern, sondern am Rand, in einer Nische des Tempels von Thoth, Gott der Weisheit und des Schreibens. Sahri spürte ein leichtes Zittern in seinem Inneren, als er daran dachte, dass er Ananya ausgerechnet hier sein Geheimnis anvertrauen würde. Was würde der Gott wohl dazu sagen, wenn es ihn denn gäbe? Und was würde Thoth – Sahris Lehrer – davon halten? Es musste unbedingt geheim bleiben. Deshalb übte er bereits seit Wochen, möglichst leise und dennoch klar zu flüstern. Er war richtig gut darin geworden und darauf auch sehr stolz.

Da sah er Ananya, wie gewohnt fünf Minuten nach der verabredeten Zeit. Sahri hatte das mit eingeplant. Sie begrüßte ihn mit einer herzlichen Umarmung. Er ließ es geschehen und legte ihr aus Höflichkeit kurz die Hände auf den Rücken, während er ihren warmen Körper an seinem spürte. Es war an sich nicht unangenehm, doch ihre überstürzende Art empfand er manchmal als grob. Sie setzten sich auf die Steinbank, unter der Sahri die Krüge deponiert hatte.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist«, sagte Sahri.
»Das sehe ich an deinem Lächeln«, sahte Ananya. »Du lächelst sonst nicht so viel.«
Sahri überging diese Bemerkung und holte die Krüge hervor.
»Möchtest du Wein? Es ist echter Adalari«, sagte er.
»Oh, das ist aber lieb.« Ananya spitzte ihren Mund wie zu einem Kuss und nahm den Krug entgegen. Sie hatte ihn nicht wirklich küssen wollen. Doch die Geste ihrer Lippen brannte sich Sahri ins Gedächtnis. Vielleicht wäre heute sein Tag.
»Die Sterne funkeln heute besonders schön«, sagte Ananya.
Sahri nickte. Er hatte mit Absicht diesen Platz ausgesucht. Von hier schaute man über den Tempel der Hathor direkt auf das septentrische Firmament. Es gab so viele Theorien über den Sternenhimmel. Die meisten besagten, dass in der Ferne große Gaskugeln verglühten, so wie die Sonne ebenfalls eine Gaskugel im Universum sein sollte. Sahri kannte auch die anderen Geschichten. Und er wusste, dass Frauen diese am liebsten hörten, auch wenn sie völliger Unsinn waren.
»Purusa zeigt uns heute seinen rechten Flügel«, sagte Sahri.
»Bist du nun auch noch ein Philosoph?«
»Sieh nur!« Sahri überging auch diesen Kommentar. Er durfte sich jetzt nicht abbringen lassen. Nicht heute, wo er den Mut gefasst hatte, Ananya einzuweihen. »Siehst du diesen hellen Stern dort, direkt unter der Gazelle?«
»Welche Gazelle? Ich sehe nur die Sterne. Und sie blitzen wie die Gischt des Meeres in der Sonne.« Ananya nahm einen Schluck vom Wein. »Trinkst du gar nicht?«
»Ich trinke Wasser«, sagte Sahri, besann sich dann aber, nicht weiter auf dieses Thema einzusteigen. »Die Gazelle ist das Sternbild dort schräg rechts über dem Dach des Tempels der Hathor. Und darunter, gewissermaßen am Hinterhuf der Gazelle, steigt gerade ein heller Stern auf.«
»Jetzt sehe ich ihn.«
»Dieser Stern hieß bei den Ersten Menschen Anya – Mutter. Es ist eine Form deines Namens. Diesen Stern wollte ich dir gern zeigen. Damit alles Gute zum Geburtstag.«
»Das ist aber lieb von dir, Sahri.« Ananya drückte ihn nochmal herzlich. Sahri verkrampfte. Er hätte damit rechnen können. Dann saßen sie einige Zeit da und beobachteten, wie der Stern Anya über dem Tempel der Hathor aufging. Ananya trank hin und wieder einen Schluck Wein, Sahri nippte an seinem Wasser. Er genoss die Stille dieses Ortes, von wo aus sie einen guten Blick auf den Platz hatten. Viele Menschen in ihrem Alter trafen sich jeden Abend dort, aßen, tranken und feierten. Die Alten spielten Reise durch die Unterwelt oder diskutierten über die Politik der Senatoren oder die Eskapaden des Patriziers.
»Willst du mit mir hinuntergehen?«, fragte Ananya.
»Nicht unbedingt«, sagte Sahri.
»Was hast du nur gegen Menschen?« Ananya grinste Sahri herausfordernd an.
»Ich habe nichts gegen Menschen generell. Dich zum Beispiel finde ich ganz angenehm.«
»Ach was!«
Sahri spürte, wie er rot wurde und schwieg. Ananya legte sich neben ihm auf die Bank und stellte sich den Weinkrug auf den Bauch, wo sie ihn festhielt. Sie sah Sahri von unten an.
»Du findest mich ganz angenehm?«, fragte sie mit Sanftheit in der Stimme.
»Das sagte ich.«
»Soso. Soll ich dir was verraten? Ich finde dich auch ganz angenehm.«
Sahri schluckte. Er wagte es nicht, Ananya anzuschauen. Etwas in ihm tat sich auf wie ein riesiges, alles verschlingendes Maul. Seine Gedanken drehten sich. Ihm wurde schwindlig. Er nahm einen Schluck Wasser und konzentrierte sich. Da wurde er wieder klar im Kopf. Leise sagte er: »Es gibt da etwas, was ich dir gern erzählen würde.«
»Wieso flüsterst du?«
»Weil es nicht jeder mitbekommen darf.« Sahri horchte. Doch der Tempel hinter ihm war bereits geschlossen und seit er hier saß war niemand außer Ananya näher gekommen.
»Verstehe«, flüsterte Ananya zurück.
Es war wie damals, als sie noch Kinder waren. Da hatten sie sich auch geheime Geschichte erzählt. Sahri war jedoch unsicher, ob er dieses Geheimnis mit Ananya teilen konnte. Würde sie ihn auslachen?
»Wie du weißt, lese ich gerne«, sagte Sahri. Er hatte den Eindruck, Ananya wollte etwas dazu sagen. Doch sie hielt sich respektvoll zurück. Das war sein Moment! Nun konnte er ihr sein Herz ausschütten. »Eine Sache habe ich noch niemandem gesagt«, fuhr Sahri fort. »Eines der Fächer, was mich am meisten interessiert, hat eigentlich gar nichts mit den Wissenschaften zu tun.« Er kicherte leise. Es war halb einstudiert. Halb musste er wirklich über diese Absurdität lachen. »Womöglich bin ich in diesem Fach mittlerweile sogar die größte Autorität der Stadt, auch wenn ich das niemals offen zugeben würde. Schließlich genieße ich mittlerweile einen gewissen Ruf. Doch mit dir möchte ich es gern teilen. Weil –«
»Weil du mich ganz angenehm findest?«
Sahri wurde heiß. »Korrekt. Unsere Freundschaft bedeutet mir etwas. Deshalb möchte ich dich einweihen. Schwörst du mir, dass du es für dich behältst?«
»Ist es dir so wichtig?«
»Äußerst.«
»Na gut. Doch ich stelle eine Bedingung.«
Sahri stutzte. »Welche Bedingung?«
»Heute ist mein Geburtstag. Ich möchte mir etwas von dir wünschen dürfen, was du mir dann erfüllst.«
Sahri dachte erneut an den Kuss. Das überwältigte ihn fast. Irgendwo im Hintergrund lauerte das ungeheure, allesverschlingende Maul. Doch er nickte. »Das klingt etwas unvernünftig, doch für heute werde ich mich drauf einlassen.«
»Wunderbar«, sagte Ananya und setzte sich auf. »Dann schwöre ich dir hiermit feierlich, dass ich dein Geheimnis für mich behalten werde. Kein Wort davon soll über meine Lippen kommen, mein ganzes Leben lang nicht.«
Sahri atmete tief durch. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, doch er ließ sich nichts anmerken. »Nun gut. Du sollst es also wissen. Ich bin ein Gelehrter der Magie.«
»Ein Magier?«
»Nicht so laut!« Sahri duckte sich, als hätte ihm jemand Prügel angedroht. »Diese Amudani können überall sein«, flüsterte er. »Nein, ich bin kein Magier. Ich habe Magie nur studiert.«
»Wie geht das denn?«
»Ich habe sämtliche Bücher gelesen, die in der Bibliothek zu bekommen waren. Einige sogar mehrfach. Ich forsche. Und ich habe sogar eine plausible Theorie, wie es zu den Magischen Kriegen gekommen sein könnte.«
»Das klingt alles furchtbar spannend«, sagte Ananya und nahm einen weiteren Schluck Wein. »Und erzähle mir gerne mehr davon. Doch jetzt ist es erst einmal Zeit für meinen Wunsch.«
Sahri war etwas enttäuscht, dass Ananya nicht gleich mehr hören wollte. Doch er hatte sich verpflichtet. »Wie lautet dein Wunsch?«
Ananya stand auf und winkte mit dem Krug Richtung Tempelplatz. »Ich wünsche mir von dir, dass wir jetzt da runtergehen und mit den anderen meinen Geburtstag feiern.«
»Das kann ich nicht!« Sahri hob die Hände abwehrend vor sein Gesicht.
»Sahri, wie lange kennen wir uns schon? Immer treffen wir uns abseits, während meine Freunde sich auf dem Tempelplatz vergnügen. Ich kann also immer nur sie treffen oder dich. Komm schon! Heute ist schließlich mein Geburtstag. Und du hast es versprochen.«
Sahri beugte sich. »Nun gut. Was soll schon Schlimmes passieren?«
»Wunderbar!« Ananya lachte und nahm Sahri bei der Hand, während sie den Weinkrug vor sich herschwenkte. »Tempelplatz, wir kommen!«

Im weiteren Verlauf des Abends zieht sich Sahri immer weiter zurück. Er beobachtet Ananya verträumt, wie sie lacht und tanzt und trinkt und sich mit den anderen unterhält. Er weiß, dass alle am nächsten Morgen mit einem Kater aufwachen werden und dass dieser Abend nur eine Erinnerung im Geiste bleiben wird. Er konnte also auch genauso gut sitzen bleiben. Später taucht Entu auf, den Sahri schon einige Male gesehen hat. Er mag ihn nicht besonders, hält ihn für grob und ungebildet. Doch genau dieser Entu tanzt lange mit Ananya, bringt sie zum Lachen und bekommt schließlich einen Kuss von ihr. Sahri geht nach Hause, kämpft mit seinem gebrochenen Herzen und will Ananya am liebsten nie wieder sehen – während er sich gleichzeitig nach ihr verzehrt.

 

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